Zum Mund abwischen

Ein Leckerbissen aus der Paarberatung


“Also, ich hab das mal aufgeschrieben”, sagt Herr B. und faltet einen Zettel auseinander. 
“Wir haben uns nämlich am Sonntag wieder furchtbar gestritten. Und hätte ich gewusst, dass das Aufschreiben so erleichternd ist, hätte ich das schon tausendmal vorher gemacht.”
Herr B. wippt mit dem übergeschlagenen Bein und lacht ein bisschen verlegen. Dann schaut er wieder auf den mitgebrachten Zettel und setzt erneut an: “Das war nämlich so...”
“Könnten Sie uns das eventuell noch einmal vorspielen, wie der Streit abgelaufen ist?”, fragt meine Kollegin in die Viererrunde der Paarsitzung. “Wo ging er denn los?”
“Wir saßen in der Küche beim Frühstück”, sagt Frau B. und bekommt einen verbissenen Gesichtsausdruck. “Das war wirklich zu blöd!”
“Sie saßen also am Küchentisch – sich gegenüber?”
“Ja, ja.” Herr und Frau B. setzen sich mit ihren Stühlen frontal zueinander – sie kennen das mit dem Nachspielen schon –, und meine Kollegin holt einen kleinen Tisch aus dem Nebenzimmer der Praxis, den sie zwischen Herrn und Frau B. stellt.
“Ja, genau, also ich hatte schon fertig gegessen und schaute meine Frau einfach an.”
“Du hast mich irgendwie so bescheuert beobachtet”, kontert Frau B.
“Ich hab dich nur angeschaut, weil ich dich gerne anschaue”, sagt Herr B. bemüht gelassen und fährt fort: “Und dann hattest du so ein bisschen Marmelade an den Fingern und ich sah, dass dir deine Serviette runtergefallen war. Und als ich ihr dann meine Serviette angeboten hab, hat sie mich total angefaucht, ich hätte ja wohl so ein Ding am Laufen mit Servietten und so...”
Ich reiche Herrn B. ein Tempotaschentuch, das gleich zum Corpus delicti wird.
“Genau, das ist meine Serviette, und deine lag auf dem Boden – haben Sie noch eins?”
Herr B. legt das zweite Tempo unter den Tisch. “Und dann hat sie nämlich noch gesagt, ich solle nicht immer so väterlich-betulich zu ihr sein. Da war dann der Ofen völlig aus. Dabei meinte ich es doch nur nett... Und dann geht’s immer voll ab. Es ist so furchtbar – ein richtiges Drama!”

Wir steigen gemeinsam genauer ein und erfahren mehr über die erlebten Gefühlswallungen: 
“Ich war total frustriert, ich krieg nicht rüber, was ich dann fühle!”, meint Herr B.
Und Frau B. erwidert: “Das ist dann wie, als würde ich gegen eine Steinwand rennen. 
Ich komme überhaupt nicht zu dir durch.”
“Du hast irgendwie Angst vor Harmonie!”, fällt Herr B. wieder in den Vorwurfsmodus zurück.
“Das kann ich auch nicht haben! Das hat so was Süßliches, wenn du dann auf Gentleman machst. Unerträglich!”

In den Sitzungen zuvor hatten wir schon erfahren, wie es bei Frau B. damals zu Hause zugegangen war, und meine Kollegin macht ein Angebot, um eine Brücke zu schlagen:
“Gab es zufällig noch jemanden, der da mit am Tisch saß?”, fragt sie.
“Nee, wieso? Wir waren alleine”, antwortet Herr B. sichtlich verwirrt.
“Wenn zwei frühstücken, sitzen immer mehrere Menschen am Tisch”, werfe ich ein.
“Ach, so meinen Sie das...”
Jetzt wird es hektisch hinter den Augen von Herrn B.

“Hatten Sie zu Hause immer Servietten zu benutzen?”, frage ich, nun zu Frau B. gewandt.
Sie wirkt ruhig, nachdenklich – und nach einer Weile bekommt ihr Gesicht einen traurigen Ausdruck.
“Hört das denn nie auf?”, sagt sie dann vor sich hin.
Nach einer kleinen Pause klingt ihre eben noch sehr müde Stimme schon wieder fester:
“Ja, das stimmt, wir hatten unmitttelbar vor diesem Streit von meinen Eltern gesprochen. 
Zu Hause hatten wir immer Servietten, und Vater achtete sehr auf gutes Benehmen.”
“Und wenn Ihnen dann Ihr Mann, der Sie vorher so beobachtet hat, eine anbietet...”
“Ja, dann läuft der alte Film...”
“Das muss ich mir aufschreiben”, sagt Herr B., “wie war das noch, wie haben Sie das gesagt?”
Ich reiche Herr B. einen Schreiber.
Herr B. faltet das Streitprotokoll wieder auseinander.
“Da fällt mir was ein!” Ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht. “Ich glaube, ich habe doch einen Servietten-Tick. Als ich so 15 oder 16 war, da bin ich das erste Mal in ein richtig vornehmes Restaurant eingeladen worden, wir hatten damals nicht so viel Geld.
Und da gab es so richtig tolle Servietten. Die waren gestärkt und hatten so eine schöne Farbe. Ich glaube, es war weinrot. Seitdem finde ich Servietten einfach geil. – Das gibt’s doch nicht. Wie war noch der Satz, den Sie eben gesagt haben?”
“Wenn zwei frühstücken, sitzen immer mehrere Menschen am Tisch.”
“Ja, genau.”, sagt Herr B. und schreibt. Dann schaut er wieder auf und seine Frau lächelnd an.
“Ich bin überhaupt nicht väterlich. Du hast eben nur Angst vor Harmonie.”
Aber die Stunde haben wir dann doch pünktlich beendet ...


© Hartwig Hansen

Erschienen in: systhema – Meinungen, Austausch, Diskussion,

Hrsg.: Institut für Familientherapie e.V. Weinheim,  2/2002