Rezension über das Buch von

Kerstin Samstag und Friederike Samstag:

Wahnsinn um drei Ecken – Eine Familiengeschichte

Köln, Balance Erfahrungen, 2018

 

 

Erstmalig und einmalig

 

Tut mir leid – ich muss es gleich am Anfang verraten: Ich habe in meinem Leben sehr viele Erlebnisberichte rund um psychische Erkrankungen gelesen – dieser gehört zu den besten! Ich weiß gar nicht so recht, wohin mit meiner Begeisterung. Also langsam voran: Dieses Buch ist eine Premiere – und das in doppelter Hinsicht. Noch nie gab es ein Erfahrungsbuch, in dem sowohl eine Mutter – selbst Psychotherapeutin – und eine Tochter/Schwester – heute Philosophin – abwechselnd und gemeinsam schildern, wie sie die psychische Erkrankung ihres Sohnes und Bruders erleb(t)en.

 

Das Genre "Angehörigenliteratur" führt seit Langem ein Nischendasein. Zwischen dem "Freispruch der Familie" von 1982 und den aktuellen Büchern von Janine Berg-Peer liegen vielleicht ein gutes Dutzend weiterer expliziter Angehörigentitel.

 

Und im Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen gründete sich erst im Mai 2017 das Geschwister-Netzwerk, standen doch lange Zeit die Mütter als "Hauptsorgetragende" alleine im Fokus und Väter, Brüder, Schwestern und Kinder irgendwo am Rande.

 

Das alles macht den "Wahnsinn um drei Ecken" so besonders.

 

Das zweite Novum ist die Art und Weise der Erlebnisvermittlung: "Franz Kafka hat eine neue Textform erfunden, sagen die Literaturwissenschafter: kurze Erzählungen, die seelisches Erleben schlaglichtartig vermitteln. ... Uns ist dies ähnlich ergangen: Was für uns in den Krisen nicht auszuhalten war, konnten wir nur in kurzen Texten beschreiben, die sich im späteren Verlauf aufeinander bezogen haben." (aus der Einleitung)

 

Wie tiefgehend-bewegend und gleichzeitig prägnant diese Textperlen sind, möge folgendes Beispiel aus der Sicht der Schwester illustrieren: "Ich hatte meinen Bruder auf eine besondere Art verloren: er war noch da, aber nicht mehr erreichbar. Es war erleichternd für mich, als jemand dieses Gefühl als 'Verlust' benannte. Die Kommunikation mit meinem Bruder war nicht mehr auf die gewohnte Art möglich, als der Bruder, den ich kannte, war er nicht mehr erreichbar. Er war da und nicht da. Angefühlt hat es sich wie ein Tod."

 

Vor allem Gefühle der hilflosen Ohnmacht und der Verzweiflung am psychiatrischen System bei aller zehrenden Sorge um die Zukunft von Sohn, Bruder und Familie stehen im Zentrum der Schilderungen – und das in einer ausgesprochen unmittelbaren und zugleich literarischen Sprache.

 

Die Passagen lesen sich, als könne man sich in die Erzählende hineinversetzen, zum Beispiel, wenn die Mutter von einem Besuch auf Station berichtet:

 

"Ich bemühte mich, so zu gehen, als sei alles normal, als könne ich meine Glieder locker bewegen. Als könnte ich meinem Sohn neben mir damit signalisieren, dass das Umherwandern ein Spaziergang sei, der mir nichts ausmachte. Ich wollte nicht, dass man mir meine innere Anspannung anmerkte."

 

Diese Achterbahnfahrt der Emotionen über acht Jahre hinweg wird im Buch – wie wohl auch im Leben – in drei Kapitel unterteilt: 1. Schock und Ohnmacht, 2. Isolation und Rückzug, 3. Den eigenen Ort finden.

 

Der Tenor der Texte: "Das Gefühl des Betroffenen, nichts mehr steuern zu können, übertrug sich teilweise auf uns. Wir erlebten die Tage wie im Blindflug und waren heillos überfordert." Die existenzielle Verwirrung wird deutlich in dem Satz der Mutter: "Ich weiß manchmal nicht, ob ich seinen Schmerz spüre oder meinen eigenen."

 

In diesem Buch kommt nun allerdings auch noch das verunsicherte Erleben der Tochter hinzu: "Ich muss meist raten, ob meine Mutter für sich selbst spricht oder für meinen Bruder. Wann und wie meine Mutter ihre Meinung ändert, ist für mich unberechenbar." und "Mein Gefühl war ständig: Ich darf mich auf nichts verlassen, ich darf keine Bedürfnisse haben und muss umgekehrt immer parat sein." Die Schwester findet ein bestechendes Bild der kleinen Familie, wenn sie schreibt: "Ich war nur ein Bauernopfer. Und das war keine Familie mehr, sondern ein Schachspiel. Mein Bruder als der König: Zu mehr als einem kleinen Schritt ist er nicht fähig, aber er muss um jeden Preis verteidigt werden, er bestimmt das ganz Spiel. Meine Mutter ist die weiße Dame, die quer durch die Felder über das Spielfeld flitzt, die am meisten tut. Gemeinsam kämpfen wir gegen die schwarzen Figuren, gegen die verschiedenen inneren Leiden meines Bruders. Der Gegner ist immer noch in voller Aufstellung, und wir nur noch zu dritt. Nein, zu zweit."

 

So wird dieses Buch zu einem, längst überfälligen systemischen Buch im besten Sinne: Hier werden die Sicht- und Erlebensweisen von Mutter und Tochter einzeln und immer wieder aufeinander bezogen geschildert, so dass Widersprüche, Missverständnisse sowie die schwer erkämpfte Klärung deutlich nachvollziehbar werden. So etwas – und vor allem auch die reflektierenden Gedanken über die emotionalen Verbindungen zu den Vorgenerationen – so etwas Spannendes habe ich vorher noch nicht gelesen.

 

Ich bin den Autorinnen sehr dankbar, dass sie die Mühen des Aufschreibens auf sich genommen haben und den Mut aufgebracht haben, so ehrlich über das Erlebte zu berichten. Denn: "Meine Mutter und ich sind uns einig, dass wir die schlimmste Zeit nicht aussparen dürfen. Wir können dieses Buch nicht um das Loch in der Mitte herumschreiben. Gerade wenn wir beide die schlimmste Zeit thematisieren, wird deutlich, wie sehr unsere Wahrnehmungen voneinander abweichen und wie schwer, manchmal unmöglich es ist, sie miteinander zu vereinbaren, zueinander in ein Verhältnis zu setzen oder überhaupt nur der anderen mitzuteilen. Ich fange also endlich damit an."

 

Und das müssen Sie nun wirklich – sorry! – selbst lesen!

 

Wie gesagt: Dieses Buch ist eine einzigartige Premiere. Sie verdient Standing Ovations – minutenlang.

 

 

Hartwig Hansen, Mitherausgeber von "Angehörige sind Erfahrene – Ein Ermutigungsbuch"

 

 

Erschienen in: Dr. med. Mabuse, Nummer  231, Januar 2018